«Unsere Rechte gemeinsam erkampfen» – Nadiye Ünsal im Porträt

 

Nadiye Ünsal ist Projektreferentin bei DaMigra e.V.
DaMigra agiert seit 2014 als bundesweiter herkunftsunabhängiger und frauen*­spezifischer Dachverband von Migrantinnen*organisationen. DaMigra ist parteipolitisch, weltanschaulich sowie konfessionell unabhängig. DaMigra versteht sich als Sprachrohr und Repräsentantin von 71 Migrantinnen*organisationen und setzt sich bundesweit für ihre Interessen in Politik, Öffentlichkeit, Medien und
Wirtschaft ein.

www.damigra.de

 

Ich bin Nadiye. Ich bin selbst Tochter von Gast­arbeiter*innen. Mein Vater kam Ende der 60er Jahre als Minder-jähriger nach Deutschland. Er ist wie so ein Urtyp von Arbeiter, weil er seit über 40 Jahren in derselben Fabrik arbeitet. Er ist seit Jahrzehnten in demselben Unternehmen und macht dieselbe Arbeit. Er ist in der Traktorindustrie tätig. Meine Eltern sind klassische Menschen aus Zentralanatolien, die im Dorf
gelebt haben und dann nach Mannheim in Baden-Württemberg ausgewandert sind, um hier eine bessere Zukunft für sich zu haben. So wie es vielen Leuten heute auch geht, dass sie kommen, um mehr Möglichkeiten für sich und ihre Familie zu haben.

Ich bin die erste Tochter von diesen zwei Menschen. Ich bin in Mannheim geboren und dort zur Schule gegangen. Ich habe dort mein Abitur gemacht – als Erste in der Familie. Dann habe ich studiert, weil meine Eltern das natürlich schon erwartet haben von mir. Weil sie nicht wollten, dass ich auch so arm und mittel­los wie sie aufwachse. Ich habe Kulturanthro­pologie und Migrations­forschung studiert und viel gelernt: über die Geschichte von »Gastarbeitern« und Geflüchteten, über die Politiken der Europäischen Union und Deutschland; darüber, wie Arbeiter behandelt werden in Deutschland und über Rassismus und Diskriminierung.

Bereits in sehr jungen Jahren habe ich angefangen, Protest zu machen. Der erste Protest, den ich mitgemacht habe, war 2001 gegen den Irak-Krieg. Da gab es Demonstrationen und ich bin einfach hingegangen. Die nächsten Proteste, die ich mitgemacht habe, waren wegen dem Studium. In Frankfurt am Main, wo ich studiert habe, da wollten die Studiengebühren für alle einführen, und ich wusste: Wenn diese Studiengebühren kommen, dann können wieder nur die weißen, deutschen oder europäischen, reichen
Leute studieren und wir alle – Migrant*innen oder Ausländer*innen oder eben Menschen, die aus dem Globalen Süden nach Deutschland kommen zum Studium – können dann nicht mehr studieren, weil es zu teuer ist. Und so habe ich bei vielen Protesten mitgemacht, aber immer als Individuum. Ich hatte keine Gruppe oder so, weil ich mich auch mit den meisten Studierenden-Organisationen nicht so wohl gefühlt habe. Die waren auch sehr »deutsch«. Ich konnte mich nicht mit ihnen identifizieren. Ich habe dann zwischendurch in der Türkei gelebt und dort studiert – sozusagen in dem Herkunftsland meiner Eltern. Das war ganz gut. Und dann kam ich nach Berlin, um meinen Master abzuschließen.

2011 ist dann ein Skandal öffentlich geworden: Zehn Jahre lang wurden Migranten von Nazis ermordet. Das ist bekannt als NSU-Skandal. Als ich das in den Zeitungen gesehen habe, war ich sehr schockiert: Nazis haben Geld vomdeutschen Geheimdienst bekommen, damit sie Waffen haben und solche Menschen wie meinen Vater umbringen können. Das hat mich sehr wütend gemacht. Ich habe angefangen, mich in einer Gruppe zu organisieren: mit Migrant*innen, aber auch anderen Menschen mit Rassismuserfahrungen. Seitdem bin ich im Bündnis gegen Rassismus aktiv und mache Aktionen gegen Rassismus und das Europäische Grenzregime. Dann kam auch schnell das Oranienplatz-Protestcamp, wo ich auch beteiligt war und viele Aktionen mitgemacht habe. Ich habe dort auch viel Polizei­gewalt und Gewalt gegen Geflüchtete gesehen. Das hat mich alles sehr politisiert.

Jetzt bin ich immer noch in kleinen Gruppen und im Bündnis gegen Rassismus aktiv. Ich mache auch immer noch Politik, nicht nur mit Geflüchteten, sondern versuche auch mit Familien zu arbeiten, die von rassistischen Morden betroffen sind und die immer noch für ihre Rechte kämpfen. Der Kampf um Rechte inspiriert mich sehr, weil wir als Menschen, die hier nicht als Deutsche gesehen werden, immer um unsere Rechte kämpfen müssen. Und das ist meine Verbindung zu den Geflüchtetenkämpfen. Ich habe nie das Asylverfahren durchlaufen, aber ich weiß, was es heißt, wenn man nicht einfach alles geschenkt bekommt und wenn man für seine Rechte erst kämpfen muss. Und deswegen freue ich mich immer, wenn ich mich gerade auch mit geflüchteten Frauen* und Migrant*innen zusammentun kann, weil wir von vielen Diskriminierungen gleichzeitig betroffen sind und viele Rechte gleichzeitig nicht bekommen. Zum Beispiel auch die hinterlassenen Frauen der NSU-Morde, das sind alles türkeistämmige Ehefrauen, die jetzt ohne Familie, ohne Opferrechte oder Entschädigungen vom Staat dastehen. Und viele geflüchtete Frauen* kommen auch ohne Familie hier an, oder sie sind getrennt von ihrer Familie, und sie müssen sich trotzdem um ihre Familie sorgen. Ich denke, wenn wir unsere Schicksale gemeinsam erzählen, haben wir eine größere Stärke, um unsere Rechte gemeinsam zu erkämpfen und diese Gesellschaft für unsere Themen zu
öffnen. Damit sie endlich versteht, dass wir schon immer da waren und dass wir immer da sein werden.

Miriam Gutekunst